Klassiker gelungen inszeniert:
Rezension „West Side Story“ in Pforzheim
Nicht wie bei Shakespeare Romeo und Julia, sondern Tony und Maria heißen die Liebenden in der „West Side Story“. Statt rivalisierender Familien im Verona des späten 16. Jahrhunderts tragen im Musical von Leonard Bernstein (Musik), Stephen Sondheim (Liedtexte) und Arthur Laurents (Buch) verfeindete Jugendbanden im New York der 1950er-Jahre die Verantwortung für die dramatischen Verwicklungen, die zur Tragödie führen.
Uraufgeführt 1957 im New Yorker Winter Garden, hat die „West Side Story“ weltweit ihren festen Platz auf den Spielplänen inne. Im Theater Pforzheim inszeniert Intendant Thomas Münstermann eine Fassung, die vor allem im Zusammenspiel von Guido Markowitz‘ sensibel modernisierter Choreographie mit der natürlichen Darstellkunst eines jungen, bis in die kleinsten Rollen typ- und altersgerecht besetzten Ensembles überzeugt.
Da sind zum einen die zumeist blonden, einheimischen Jets, die in Jeans und auffälligen schwarz-neongelben Baseballjacken mit lässiger Arroganz auftreten. Auch ihre Mädchen sind in hellen Blusen und Röcken von den temperamentvollen, in rot geblümten Kleidern scheinbar ständig tanzenden und mit herrlich passendem Akzent singenden Puerto-Ricanerinnen sofort zu unterscheiden.
Diese gehören zu den Sharks, den Einwanderern, die fest entschlossen sind, sich ihren Platz in der neuen US-amerikanischen Heimat zu erkämpfen. Dunkelhaarig und ganz in rot und schwarz gekleidet sind die Jungs der Sharks die erbitterten Gegner der Jets. Dirk Steffen Göpferts charakterisierende Kostüme verdeutlichen durch Marias weißes Kleid und Tonys gemäßigteren Kleidungsstil auch sofort, dass beide im Grunde gar nicht zu einer der Gruppen gehören. Tony ist dem Gang-Leben entwachsen, Maria eben erst in Amerika angekommen.
Die explosive Handlung entwickelt sich inmitten eines New Yorker Hinterhofs mit typischer Feuertreppe, einer Ladenstraße mit ebenerdigen Fenstern und roten Getränkekisten auf dem Gehsteig, zwischen Skateboardrampen und schrottreifen Autos. Optisch passende Projektionen ergänzen die Szenerie. Dort, wo sonst das Orchester sitzt, erweitern mittels Hebebühne heraufgebrachte Szenenbilder - eine Theke oder Teile des US-beflaggten Tanzsaals - die Bühnenfläche. Rollende Gitter, die vom Ensemble immer wieder zu neuen Anordnungen geschoben und gedreht werden, trennen Jets und Sharks.
Für den kurzfristig eingesprungenen Thomas Christ, der Riff, den Anführer der Jets spielt, ist es sicher nicht einfach, hier nicht unter die Räder zu kommen. Er meistert die Herausforderung aber einwandfrei und gibt einen von sich selbst überzeugten Bandenchef, dessen forscher Art Thomas Christ beim „Jet Song“ auch stimmlich Ausdruck verleiht.
Sein Gegenpart Bernardo, an diesem Abend ausnahmsweise dargestellt von Julian Culemann, entspricht als Chef der Sharks dem südländischen Klischee des typischen Machos, der seine Schwester Maria mit seinem Kumpel Chino (Edoardo Novelli) liiert sehen möchte und nach ihren Wünschen gar nicht erst fragt. Dass Maria sich auf den ersten Blick in Tony verliebt, geht ihm total gegen den Strich, was Culemann auch unverkennbar in seinem energischen Spiel verdeutlicht.
Als Bernardos Verlobte Anita bringt Jula Zangger mit lebhaftem Mezzosopran und wirbelnden Tanzschritten Schwung in jede Szene. „Amerika“ wird zur mitreißenden Hommage an die lateinamerikanische Lebensfreude und Vitalität, die sich die Shark-Mädchen trotz aller Probleme bewahren. In „Ein Mann wie der“ wird Zangger auch dem ernsten Aspekt der Rolle gerecht. Als sie von den Jets vergewaltigt wird und ihnen daraufhin voller Hass die Nachricht von Marias angeblichem Tod entgegenschleudert, hätte sie durchaus zorniger agieren dürfen. Im Rahmen der ansonsten durchweg gelungenen Umsetzung wirkt die Vergewaltigungsszene generell zu effektheischend und vielleicht dadurch zu wenig nachdrücklich.
Da eine Krankheitswelle das Theater Pforzheim bei der besuchten Vorstellung ziemlich erwischt hatte, musste auch der Part der Maria umbesetzt werden: Sopranistin Maria Rosendorfsky, die als festes Ensemblemitglied am Theater Ulm engagiert ist, fügt sich nahtlos ein. Stimmlich anfangs noch etwas hart, klingt sie im Duett „One Hand, one Heart“ dann sie wunderbar sanft und weich. Auch darstellerisch vermittelt sie sehr authentisch sowohl die anfangs unschuldig-fröhliche Leichtigkeit, als auch die ernsthafte Stimmung am Schluss der Hochzeitsspiel-Szene.
Mit „Somewhere“ träumen sich Tony und Maria aus der gewaltgeprägten Realität in eine bessere, friedliche Welt. Aus den oberen Publikumsrängen klingen Worte der Hoffnung zu Tony hinunter, während das Ensemble mit ausgestreckten Armen immer näher an den Bühnenrand rückt und der schöne Traum verstärkt durch die diffuse Lichtgebung zum immer beklemmenderen Alptraum wird. Kleider werden bedrohlich geschwenkt und bleiben dann auf dem Boden einfach liegen – ein schöner Übergang zur Folgeszene, als Maria und Tony nach ihrer gemeinsamen Nacht erwachen.
Der junge Tenor Johannes Strauß, eigentlich im Opern- und Konzertfach zuhause, wirkt als Tony nachdenklich, fast zerbrechlich. Sofort spürt man seine intensiven Gefühle für Maria, die wenigen ausgelassenen Momente jungen Glücks spielt Strauß mit natürlicher Leichtigkeit. Auch Tonys Absicht, zwischen den verfeindeten Gangs zu vermitteln, wird gut herausgearbeitet. Etwas zu verhalten gerät Strauß nur der Bandenkampf, in dessen Verlauf Tony Bernardo ersticht, nachdem dieser im Kampf Riff getötet hat. Gesanglich brilliert Johannes Strauß mit seiner klassisch ausgebildeten, glasklaren Stimme, die zudem über ein wunderschönes Timbre verfügt. Voll in den Tiefen und strahlend in den Höhen gelingt es ihm mit perfekter Stimmführung, auch dem oft gehörten „Maria“ eine ganz besondere emotionale Tiefe zu verleihen.
Die Choreographie der Pforzheimer Inszenierung schlägt eine Brücke zwischen dem klassischen Stoff und dessen unverändert aktueller Bedeutung. Statt Kulissen oder Handlung krampfhaft erneuern zu wollen, setzen Regisseur Münstermann und Choreograph Markowitz dort an, wo Emotionen ohne Worte vermittelt werden: beim Tanz. Nicht das gewohnte Schnippen, sondern Streetdance-Elemente bestimmen den Stil. Die Balletttänzer, die bei der Pforzheimer „West Side Story“ mit ihren Kollegen der Sparten Schauspiel und Musiktheater zu einem harmonischen Ensemble verschmelzen, wissen die Eleganz des klassischen Tanzes in den offensiven Rhythmus der Straße einzubringen. Besonders Tu Ngoc Hoang fasziniert mit geradezu graziös zu nennendem Breakdance.
Die Badische Philharmonie Pforzheim unter Musikalischer Leitung von Tobias Leppert spielt sich halb verdeckt im Bühnenhintergrund mit gewohnter Präzision durch Bernsteins Werk, mit großer Dynamik bei den jazzorientierten Melodien und starker Emotionalität bei den Balladen.
„West Side Story“ in Pforzheim kommt ohne mahnend erhobenen Zeigefinger aus. Und doch denkt man fast automatisch darüber nach, dass die Liebenden statt Tony und Maria auch Thomas und Miray heißen könnten. Oder Tarik und Martha. Oder Torsten und Maarifa. Oder…
Text: Sylke Wohlschiess
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