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Große Gefühle:
Rezension "Das Wunder von Bern" in Hamburg

4. Juli 1954: Ob Fußballfan oder nicht, die vor Begeisterung überschnappende Stimme des Radiokommentators Herbert Zimmermann hat man bis heute im Ohr. Die Deutschen spielen erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder mit um die Krone des Weltfußballs. Der Sieg ist nicht nur ein völlig unerwarteter sportlicher Erfolg, sondern wird zum positiven Signal für eine Nation, die sich nach den Kriegsjahren ihrer Verantwortung und der Zukunft stellt.

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Diesen gesellschaftlichen Hintergrund verbindet Sönke Wortmann 2003 in seinem mehrfach preisgekrönten Film „Das Wunder von Bern“ mit der Ereignissen im Leben der Familie Lubanski, deren Familienoberhaupt Richard nach seiner Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft zunächst weder im Familienkreis noch im sozialen Umfeld Fuß fassen kann.

Martin Lingnau (Musik), Gil Mehmert (Buch und Regie) und Frank Ramond (Songtexte) bringen den Stoff von der Leinwand auf die Bühne und schaffen ein zutiefst bewegendes Musical. Die szenische Umsetzung ist bis ins kleinste Detail durchdacht, die Kompositionen werden in Verbindung mit den sorgfältig ausgearbeiteten Songtexten zu perfekten klanglichen Charakterprofilen der handelnden Personen.

Alexandra Farkic spielt mit spürbarer Hingabe die Rolle der Christa Lubanski, die in Abwesenheit des Ehemanns die Verantwortung für die Familie übernimmt, sich allen Schwierigkeiten zum Trotz ihre positive Lebenseinstellung bewahrt und ihren Kindern Halt und Vorbild ist. Ob selbstbewusst im Umgang mit den Gästen in ihrer Kneipe, um Vermittlung bemüht im Konflikt zwischen Vater Richard und den Kindern oder energisch für den Jüngsten Partei ergreifend, als Richard mit dem Gürtel ausholt und damit weit übers Ziel hinausschießt: Alexandra Farkic setzt die richtigen schauspielerischen Akzente und zeichnet ein klares Bild einer Frau von großer innerer Stärke. Gemeinsam mit Inga Krischke als Tochter Ingrid Lubanski überzeugt sie auch mit viel Gefühl bei der Interpretation der Ballade „Wunder gescheh‘n“, mit der Christa den tieftraurigen Matthias und Ingrid den nicht minder verzweifelten Vater tröstet.

Ingrid ist ihrer Mutter in vielerlei Hinsicht ähnlich, sie wünscht sich – ganz traditionell – irgendwann eine eigene Familie und ein Heim, möchte aber auch ihre Jugend genießen, tanzen, lachen und die schlimmen Jahre vergessen. Mit klarem, hellem Sopran und wirbelndem Petticoat versprüht Inga Krischke die neu erwachende Lebensfreude ihrer Zeit. Als Vater Richard sie auf einer Tanzveranstaltung wutentbrannt aus den Armen eines Soldaten reißt, hebt Krischke mit gut akzentuierten druckvollen Passagen die wenigen Momente offener Auflehnung hervor: „Ich will doch nur leben, ist das denn zu viel verlangt“ fragt sie eindringlich.

Offene Rebellion dagegen ist bei ihrem Bruder Bruno angesagt. Bei „Rock ’n’ Roll Rebel“ versetzt David Jakobs mit exzellenter Performance das Publikum in einen Rockclub der 1950er-Jahre. Zum Sprachrohr seiner Generation wird Bruno bei „Immer nur gehorchen“. Mit schonungslosem Gesang und unmissverständlicher Mimik verleiht David Jakobs Worten wie „zweifeln, fragen, denken ist des Menschen Privileg“ sehr deutlich Nachdruck und kritisiert damit nicht nur seinen Vater, sondern dessen ganze Generation. Heimlich klebt Bruno KPD-Plakate und haut ab nach Ost-Berlin, um dann festzustellen, dass Realität und Ideale nicht immer Hand in Hand gehen. Im Umgang mit dem kleinen Bruder Matthias bringt Jakobs auch die nachdenkliche Seite des wütenden Jugendlichen überzeugend zum Vorschein.

wunder 02Auch Matthias, genannt Mattes, hat mit dem Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu kämpfen. „Wir beide werden groß sein“ drückt in wunderschönen Worten die tiefe Sehnsucht nach dem Vater aus, den Mattes nie kennengelernt hat und dessen Rückkehr er kaum erwarten kann. Doch Vater Richard macht mit einem Schlag alle Freude und Hoffnungen zunichte: „Wer ist der da?“ fragt er taktlos. Tief verletzt schließt Mattes sich umso enger seinem Vorbild Helmut Rahn an. Mit viel Herz positioniert Dennis Henschel diese Rolle gekonnt zwischen Ruhrpottkicker, Jugendidol und späterem Fußballhelden. Kinderdarsteller Ben meistert seinen großen Part mit Bravour, singt ausgesprochen sicher und durchlebt glaubhaft durch die wechselvollen Emotionen des jüngsten Lubanski-Sprosses.

Eine echte Herausforderung ist auch die Rolle des Richard Lubanski. Nach außen hin hart und unnachgiebig, versucht er zunächst, die Traumata der Kriegszeit zu verdrängen. Mit den veränderten Verhaltensweisen der Jugend kommt er ebenso wenig zurecht, wie mit einem Pfarrer, der um den Sieg bei der Fußball-WM betet. Detlef Leistenschneider gelingt es auf beeindruckende Weise, die allmähliche Rückkehr des Richard Lubanski in einen familiären und beruflichen Alltag darzustellen. Sein wechselvolles Minenspiel lässt hinter autoritären Erziehungsmethoden und Plattitüden wie „Ein deutscher Junge weint nicht“ immense innere Qualen erahnen. Mit perfekt ausbalanciertem Spiel verschiebt Detlef Leistenschneider den Blickwinkel auf seine Bühnenfigur immer weiter von außen nach innen, bis er mit beklemmend-intensiven Gesang bei „Die Krähe“ Richards Schutzwall endgültig brechen lässt und ihm dadurch endlich den Neuanfang ermöglicht. Richard erkennt, wie viel Mattes die Fußball-Weltmeisterschaft bedeutet. Sie machen sich tatsächlich dorthin auf den Weg.

Während man Vater und Sohn im blauen VW-Käfer auf dem Weg nach Bern sieht, läuft parallel das Turnier. Auf einem senkrecht stehenden Fußballfeld erscheinen die Namen der Spieler, Pfeile markieren den Verlauf der Spielzüge. Darsteller bewegen sich an speziell konstruierten Halterungen rasant auf und ab, so wird täuschend echt das Endspiel dargestellt. Atemberaubende Ballakrobatik darf natürlich nicht fehlen und wird von Dominik Kaiser und Giuliano Mercoli treffsicher auf die Bühne gezaubert.

wunder 03Die Fußballszenen, angefangen von der Fahrt „Hoch auf dem gelben Wagen“ ins Trainingslager, über Geplänkel zwischen den Spielern bis hin zu Trainer Sepp Herberger (klasse: Thomas Henniger von Wallersbrunn), der nicht nur seine Jungs in puncto Liegestützen in die Tasche steckt, sondern auch auf Pressekonferenzen die flotten Sprüche einer Schweizer Putzfrau zum Besten gibt, sind ein Gegenpol zur ernsten Thematik um Familie Lubanski. Deshalb passt hier auch die Varietenummer „Seien sie nicht so deutsch“, bei der Tänzer in blauen Glitzerjacken Strohhüte an Jonglierstöcken kreisen lassen und besagte Putzfrau in ihre Mitte nehmen. Dass unter der Kittelschürze ein Mann steckt, überzeichnet bewusst die Pointe. Jogi Kaiser nutzt die Chance und punktet mit Schweizer Dialekt und trockenem Humor.

Als Bindeglied zwischen dem globalen Ereignis einer Fußball-Weltmeisterschaft und dem Einzelschicksal der Lubanskis, das stellvertretend für viele andere dieser Zeit steht, geben Wolfgang Zarnack und Maria Kempken ein liebenswertes Ehepaar Ackermann. Paul wird als Sportreporter zur WM geschickt, was seiner Frau Annette nicht so richtig in den Kram passt. Sie stellt sich die Hochzeitsreise anders vor: „Da muss man doch gewesen sein“ singt Maria Kempken im Herzchenkleid unter einer Vielzahl bunter Ansichtskarten aus aller Welt. Die fröhlichen Sambarhythmen verlieren bei der Aussicht auf „löchrigen Käse“ an Schwung, aber Annette funktioniert die Fahrt nach Bern kurzerhand in Ersatz-Flitterwochen um und lässt im Berner Nobelhotel nichts unversucht, ihren Mann vom Schreiben abzulenken.

Fröhliche Stimmung herrscht auch unter den Kindern beim unbekümmerten Blechdosen-Kick, beklemmend dagegen die Einfahrt ins Bergwerk, das sich in Richards Fantasie zum Schlachtfeld wandelt. Von eisiger Ablehnung geprägt ist die Atmosphäre im Amt, bei dem Richard vorspricht und geradezu gespenstisch die Einfahrt des Zuges mit den Kriegsheimkehrern in den Essener Hauptbahnhof. Durch die verschiedenen Handlungsstränge entstehen immer wieder unterschiedliche Stimmungen, die Regisseur Gil Mehmert mit klarer Personenführung und hervorragend ausgearbeiteten Szenenübergängen zu einem gelungenen Blick auf Nachkriegsdeutschland verbindet. Stefanie Bruhns Kostüme entsprechen perfekt den 1950er-Jahren und tragen viel zum gelungen visualisierten Zeitkolorit bei. Als wahres Meisterwerk darf man auch Jens Kilians Bühnenbild bezeichnen, das dem Zuschauer immer wieder neue Perspektiven eröffnet und in Verbindung mit Lichtdesign (Andreas Fuchs) und Videoeinspielungen (Ad De Haan und Timm Ringewaldt) täuschend echt Trainingslager, Christas Kneipe, das Haus der Lubanskis und den Fußballplatz von Rot-Weiss Essen entstehen lässt.

„Das Wunder von Bern“ ist ein Musical, das mit inhaltlichem Anspruch, gelungener Umsetzung und musikalischer Vielfalt überzeugt, ein großartiges Stück Musiktheater, das bewegt und begeistert - ob Fußballfan oder nicht


Text: Sylke Wohlschiess

 

 

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