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Ich bedaure nichts:
Rezension "Piaf" in Stuttgart

„Non, je ne regrette rien“, so singt Edith Piaf 1960, als sie bereits von einem unheilbaren Krebsleiden gezeichnet ist. Dabei hätte es in einem Leben mit unzähligen Männergeschichten und Drogenskandalen für eine weniger starke Persönlichkeit vielleicht doch das eine oder andere zu bedauern gegeben. Nicht so die Piaf.

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Autorin Pam Gems schildert in ihrem Schauspiel mit Musik rückblickend das turbulente Leben der französischen Chansonnette, die mit bürgerlichem Namen Edith Giovanna Gassion hieß und erst von ihrem Entdecker Louis Leplée den Spitznamen „Môme Piaf“ – kleiner Spatz – erhielt.

Oberspielleiter Ulf Dietrich inszeniert „Piaf“ am Alten Schauspielhaus in Stuttgart. Der Musikalische Leiter Andrew Hannan hat die Chansons neu arrangiert und sitzt selbst am Klavier. Zu ihm auf das Musikerpodest gesellen sich Ulrich Schlumberger am Akkordeon und Mareike Öhler am Cello. Die Musiker vermitteln Note für Note das intensive Lebensgefühl der Chansons, spielen voll spürbarer Hingabe und mit viel Einfühlungsvermögen.

Edith Piafs Weg führt von einer primitiven Absteige im Rotlichtviertel, nur angedeutet durch eine nackte Glühbirne und einen einfachen Holztisch, bis in ein sieben-Zimmer-Luxus-Appartement mit Seidenkissen auf einer edlen Chaiselongue. Mit geradezu spartanischer Ausstattung visualisiert Bühnenbildnerin Martina Leber doch sofort die jeweilige Lebenssituation der Piaf: ihre ersten Auftritte in schäbigen Bars mit schmucklosen Holztischen, in denen das Publikum mehr an Alkohol und schnellem Sex als an Kultur interessiert ist, dann edlere Nachtclubs mit Blumenschmuck und Tischdecken. Stationen wie das Moulin Rouge werden durch Strichzeichnungen an den Bühnenhintergrund projiziert.

piaf 03Dann wird ein Mikrofon direkt am vorderen Bühnenrand aufgestellt und der Auftritt in der New Yorker Carnegie Hall angekündigt. Edles blaues Licht vermittelt Konzertatmosphäre. Das Stuttgarter Publikum spielt ganz ohne Probe mit und klatscht frenetisch Beifall.

Klein, zierlich und wie immer ganz in Schwarz betritt die Diva die Bühne – und nicht nur die optische Ähnlichkeit der Hauptdarstellerin mit Edith Piaf lässt einem fast den Atem stocken. Der expressive Gesangsstil mit wild rollenden Rs und lang gezogenen Ns, ein schier unerschöpfliches Stimmvolumen und Emotionen, die französische Sprachkenntnisse ganz und gar überflüssig machen: Vasiliki Roussi gibt die exzentrische Künstlerin mit dem unvergleichlichen Piaf‘schen Ausdruck irgendwo zwischen Zerbrechlichkeit und der Unbeugsamkeit des ehemaligen Gossenkindes. Mit verblüfft aufgerissenen Augen, fahrigen, teils ruckartigen Gesten, sich immer wieder wie Halt suchend mit fast weiß erscheinenden Händen selbst umfassend, zeigt sie sowohl darstellerisch als auch gesanglich eine absolut brillante Leistung.

Die weltberühmten Chansons sind analog zu den Ereignissen in Edith Piafs Leben meist als Auftritte eingebunden. In Verbindung mit Roussis authentischer Interpretation entsteht so ein sehr dichte, eindringliche Wirkung. Als Edith Piaf zu Unrecht der Ermordung ihres Gönners Louis Leplée beschuldigt wird, erklingt „Sou le Ciel de Paris“. Nach dem Flugzeugabsturz, bei dem Piafs große Liebe, der Boxer Marcel Cerdan (ganz der durchtrainierte Sportler: Christoph Bangerter) stirbt, weint Vasiliki Roussi voller Schmerz „Mon Dieu“. „Milord“ schallt es in der Carnegie Hall, „La Vie en rose“ in einer Bar, in der mal wieder ein paar Männer in den Fängen der Lady landen. Auch die derben, fast ordinären Szenen, die verzweifelte Hingabe an den immer wieder nächsten Liebhaber, die sie sogar Morphiumsucht und Krankheiten überwinden lässt, spielt Vasiliki Roussi überzeugend, ohne jemals zu überziehen.

Als treue Freundin Toine, die mit Edith Piaf in den Anfangszeiten die bescheidene Behausung teilt und auch später herbeieilt, wenn Hilfe nötig ist, überzeugt Heike Schmidt mit rotziger Herzlichkeit und Gossenjargon. Die Rollen der vielen Liebhaber sind auf Dimetrio-Giovanni Rupp und Lutz Erik Aikele aufgeteilt. Ilona Christina Schulz gibt mit Grandezza Marlene Dietrich, mit der die Piaf eine enge Freundschaft verband.

Das gesamte Ensemble weiß auch kleine Rollen auf den Punkt umzusetzen und hat so großen Anteil an der Überzeugungskraft der Stuttgarter Inszenierung, bei der die überragende Vasiliki Roussi in der Titelrolle stets im Mittelpunkt des Geschehens steht. „Piaf“ in Stuttgart ist ein Theatererlebnis, bei dem es definitiv nichts zu bedauern gibt.

Text: Sylke Wohlschiess

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