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Leinen los:
Rezension "Titanic" in Bad Hersfeld

"Irgendeiner sollte das mal ins Logbuch eintragen." Gegen 23.40 Uhr am 4. April 1912 überlegen die Offiziere an Bord der Titanic, ob die kleine Kollision mit einem Eisberg überhaupt ein nennenswertes Ereignis war. Zwei Stunden und 40 Minuten später sinkt der Luxusdampfer auf den Grund des Nordatlantiks und reißt 1.514 Menschen in einen eisigen Tod. Ein medienwirksamer Geschwindigkeitsrekord auf der Route von Southampton nach New York sollte die Titanic zur Legende machen. Die Reise endet als eine der größten Katastrophen der Seefahrt.

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Unzählige Sachbücher und Romane gibt es über die Titanic, mehrere Ausstellungen, zahlreiche Fernsehdokumentationen und Kinostreifen. Die sicherlich bekannteste Verfilmung von James Cameron mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen wurde im November 1997 erstmals gezeigt. Aber schon zuvor, bereits im April desselben Jahres, feierte das Musical "Titanic" von Maury Yeston (Musik und Songtexte) und Peter Stone (Buch) Premiere am Broadway. Im Dezember 2002 fand die Deutsche Erstaufführung in der Übersetzung von Wolfgang Adenberg in der Hamburger Neuen Flora statt, im Sommer 2017 sinkt die Titanic nun bei den Bad Hersfelder Festspielen in der Stiftsruine - und zwar bravourös.

titanic bad hersfeld 02Das nüchtern anmutende Bühnenbild besteht aus dreistöckigen, unterschiedlich breiten Treppenelementen mit Metallgeländern, die leichtgängig fahrbar sind und immer wieder neu angeordnet werden. Sie fungieren als Kommando- und Funkerbrücke, Ausguck, Maschinenraum und als Decks der ersten, zweiten und dritten Klasse. Kippbare Stege schaffen Übergänge zwischen den Ebenen und den einzelnen Elementen. Zu Beginn werden diese nach und nach so angeordnet, dass die rückseitig angebrachten riesigen Buchstaben den Schiffsnamen bilden. Gleichzeitig wird ein an Stahlketten hängender bühnenbreiter Laufsteg in luftige Höhe gezogen – und schon sieht man das Auslaufen der Titanic verblüffend real vor sich. Das ist gleichzeitig einer der wenigen Momente, in denen das Publikum von außen auf das Geschehen blickt. Durch den Verzicht auf ein Schiffskonstrukt wechselt man fast unmerklich die Perspektive und erlebt das Geschehen an Bord aus nächster Nähe mit, sozusagen als Passagier.

Nicht nur das Bühnenbild von Timo Dentler und Okarina Peter, sondern auch Susanne Hubrichs Kostüme zeigen die enge Verzahnung von Regie und Ausstattung.

Die Kleidung signalisiert die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsschicht und gleichzeitig das Schwarz-Weiß-Denken, das einen Ausbruch aus dem durch Geburt vorbestimmten Lebensweg Anfang des 20. Jahrhunderts so schwierig gemacht hat. Schwarze, einfach geschnittene und schmucklose Kleidung tragen die Passagiere der 3. Klasse, die im untersten Deck ihre Kabinen beziehen. In Klasse 2 im Mitteldeck geht es deutlich gediegener zu: Da zieren schon einmal ein Seidentuch oder eine hübsche Knopfleiste die grauen Anzüge und taillierten Kleider. In der Luxusklasse übertrifft sich die High Society gegenseitig mit edelsten Roben in strahlendem Weiß, die Damen prunken in Pelz und Brillanten. Hier ebenso wie in den in kühlem Blau ausgeleuchteten Szenen nach der Kollision mit dem Eisberg setzt das durchweg stimmige Lichtdesign von Ulrich Schneider starke atmosphärische Akzente und verstärkt die intensive Wirkung der Inszenierung.

titanic bad hersfeld 06Regisseur Stefan Huber gelingt es, das knapp 40-köpfige Ensemble zu einer Einheit zu verschmelzen und gleichzeitig jede Figur als Charakterstudie für sich zu positionieren. Die bis in die kleinsten Rollen alters- und typgerecht ausgewählte Besetzung schafft ein Höchstmaß an Authentizität.

Rüdiger Reschke gibt den schwerreichen, stets Haltung bewahrenden Geschäftsmann Benjamin Guggenheim, an dessen Arm Samantha Turton als seine junge Geliebte Léontine Aubert in zarter Eleganz über die Planken der Titanic schwebt. Nina Janke besticht mit herausfordernder Lässigkeit als höchst unkonventionelle alleinstehende Luxuslady Charlotte Drake Cardoza. Für Lacher sorgt Dominik Büttner als Major mit Augenklappe, der ständig mit seinen angeblichen Heldentaten prahlt. Büttner übernimmt auch die Rolle des 3. Offiziers Herbert Pitman.

Gern mit einem ironischen Spruch auf den Lippen bewegt sich Romeo Meyer als Begründer der Waldorf-Astoria-Hotelkette John Jacob Astor übers gesellschaftliche Parkett. Auch er sieht dem Unvermeidlichen mit Würde ins Auge und beruhigt seine schwangere Frau (Anja Haeseli als Madeleine Astor), die ohne ihn zunächst nicht ins Rettungsboot steigen will. Sie tut es schließlich doch - im Gegensatz zu Ida Strauss.

Die Gattin des Politikers und Inhabers des New Yorker Kaufhauses Macy’s weigert sich, Isidor zu verlassen. "Wo du hingehst, will auch ich hingehen" ist für sie nicht nur ein dahingesagter Spruch, sondern ein Versprechen, das immer Gültigkeit behält, sogar wenn sie damit den Tod wählt. Uwe Dreves und Christine Rothacker machen mit vertrauten Blicken und Gesten die innige Verbundenheit des älteren Ehepaares lebendig. Ihre Stimmen harmonieren wunderbar und machen das Duett "Wie vor aller Zeit" auf der schon gefährlich schwankenden Gangway, auf der der stets beflissene Steward Henry Etches (klasse: Mathias Schlung) noch ein letztes Glas Champagner serviert, zu einem tief berührenden Moment.

titanic bad hersfeld 07In der minutiösen zeitlichen Abfolge des Unglücks kommt am Ende der eigentliche Überlebenskampf der Menschen recht kurz, die eine oder andere dramatische Szene hätte man sich hier doch noch gewünscht. Aber in erster Linie ist das Musical "Titanic" eine Momentaufnahme, ein Mosaik aus Einblicken in die völlig unterschiedlichen Lebensumstände, Träume und Verhaltensweisen der Menschen, die sich an Bord befanden.

Über die berühmten Persönlichkeiten und die Besatzungsmitglieder sind mehr Informationen überliefert, als über die Passagiere der 2. und 3. Klasse. Aber auch deren Namen wurden, teils in variierter Schreibweise, den Passagierlisten entnommen und auf sehr plausible Art und Weise mit Leben erfüllt.

Die drei Kates schwärmen von den Möglichkeiten, die sich "In Amerika" eröffnen. Gabriela Ryffel, Melanie Gebhard und Veronika Hörmann vermitteln mit strahlendem Lachen, beschwingten Tanzschritten und fröhlich klingenden Stimmen den Optimismus und den Mut, den es erfordert, alles hinter sich zu lassen für die Chance, im fernen Amerika als Näherin, Lehrerin oder Zofe ein besseres Leben zu finden.

"Ich muss auf dieses Schiff" ist auch Alice Beanes ganzes Bestreben. Die mit ihrem gutbürgerlichen Dasein zutiefst unzufriedene Frau giert nach der Nähe der Reichen und Schönen, schleicht sich unerlaubterweise in den Ballsaal der 1. Klasse und drängt Ehemann Edgar zunehmend zu "Höherem". Dieser jedoch ist eigentlich ganz zufrieden mit seinem Leben als Ladenbesitzer. Rolf Sommers Bariton kontrastiert sehr gut mit Kristin Hölcks eher metallisch gefärbtem Sopran, was ihre unterschiedlichen Einstellungen auch stimmlich hervorragend abbildet. Einigkeit dagegen herrscht bei Konstantin Zander als Charles Clarke und Anja Backus als Caroline Neville, dem verliebten Paar, das in Amerika heiraten will.

titanic bad hersfeld 04Diese Pläne hat auch David Arnsperger in der Rolle des Heizers Frederick Barrett. Harold Bride, gespielt von Andreas Bongard, funkt Barretts Heiratsantrag zu dessen Angebeteter aufs Festland. Beide skizzieren die Gefühle der jungen Seefahrer mit natürlichem Spiel und grandiosen Stimmen. "Mögen Engel dich behüten" singt David Arnsperger voller Hingabe, sein lyrischer Bariton klingt sanft und einschmeichelnd. Andreas Bongard erzählt mit klarem, hellem Tenor von seiner Einsamkeit, die durch die Erfindung des Telegrafen ein Ende nahm. Beide Gesangslinien dieses anspruchsvollen Duetts verbinden sich zu einem fulminanten, hochemotionalen Schluss.

Auch Merlin Fargel als Frederick Fleet, der junge Matrose im Ausguck, weiß auf ganzer Linie zu überzeugen. Fargel setzt mit seinem klangvollen, sicher geführten Tenor wunderschöne gesangliche Akzente. Auch sein schauspielerisches Können ist von großer Ausdrucksstärke: Fargels entsetzt aufgerissene Augen lassen den Eisberg förmlich sichtbar werden. Aber es ist zu spät: "Kein Mond" erhellt die Nacht, das Schiff fährt zu schnell, kann nicht mehr ausweichen und wird gerammt. Um die Schuldfrage streiten der Kapitän, der Eigner des Schiffs und der Konstrukteur.

Frank Winkels entwickelt eine detaillierte Charakterstudie des durch und durch unsympathischen Direktors der White Star Line, Bruce Ismay. Von blindem Technikglauben getrieben, hält er sein Schiff für unsinkbar und erzwingt immer schnellere Fahrt. Anfangs überheblich und besserwisserisch, später zunehmend aggressiv, erweist er sich zuletzt noch als Feigling und flieht in einem Rettungsboot, das zunächst den Frauen vorbehalten war.

Der Konstrukteur der Titanic, Thomas Andrews, wandelt sich in Alen Hodzovics fantastischer Darstellung vom anfänglich etwas blassen, fast durchgeistigen Intellektuellen mit zunehmender Krise zu einem leidenschaftlichen Ingenieur, der im Moment des Untergangs noch die Baupläne umzeichnet.

titanic bad hersfeld 03Captain Smith, dargestellt vom titanticerprobten Michael Flöth, lässt sich von Ismay unter Druck setzen. Smith weiß um die Gefahr zu schneller Geschwindigkeit, möchte aber insgeheim nur zu gerne seine berufliche Laufbahn mit einer Sensation beenden. Flöth spielt den inneren Konflikt des gealterten Kapitäns mit großer Überzeugungskraft und würdevoller Ausstrahlung. Auch Jörg Neubauer als 1. Offizier William Murdoch quält sich ausgesprochen glaubhaft mit Entscheidungsschwäche und Selbstzweifeln, übernimmt aber in der Krise die volle Verantwortung für die Kollision.

Die Namen der Crewmitglieder und der berühmten Passagiere kennt man bis heute. Im Stück werden diese immer wieder genannt. So wird die Aufmerksamkeit verstärkt auch auf kleinere Rollen gelenkt, was "Titanic" zu einem wunderbaren Ensemblestück mit großartigen Chören macht, die vom Bad Hersfelder Ensemble auf allerhöchstem Niveau dargeboten werden. Ein geradezu bombastischer Klangteppich in perfekter Tonqualität (Jörg Grünsfelder) legt sich über die Stiftsruine. Yestons opulente Kompositionen verlangen nach einem nicht nur großen, sondern auch großartigen Orchester. Die 36 Musikerinnen und Musiker unter bewährter Leitung von Christoph Wohlleben erfüllen diesen Anspruch vom ersten bis zum letzten Takt und tragen maßgeblich zur beeindruckenden Wirkung bei, die "Titanic" in Bad Hersfeld entfaltet.

Mag auch das Buch die eine oder andere Schwäche aufweisen, was zu vereinzelten Längen im Ablauf führt, so glänzt das Musical doch mit bewegender Musik, interessanten Charakteren und inhaltlichem Anspruch. Die kreative Umsetzung und die durchweg spiel- und stimmstarke Besetzung machen "Titanic" in der Stiftsruine Bad Hersfeld zu einem musicalischen Highlight des Sommers 2017. Wohl denjenigen, die sich Karten sichern konnten. Fast alle Vorstellungen sind bereits ausverkauft.

Text: Sylke Wohlschiess

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