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Mordlust und Medien:
Rezension „Chicago" in Stuttgart

Untreue Ehefrau erschießt abtrünnigen Liebhaber, korrupte Gefängnisaufseherin manipuliert die Medien, durchtriebener Winkeladvokat lügt die Mörderin mit erfundener Story in die Freiheit. Weit hergeholt? Eigentlich nicht. Das Musical „Chicago" von John Kander (Musik), Fred Ebb (Liedtexte und Buch) und Bob Fosse (Buch und Original-Choreographie) basiert auf einem Theaterstück der amerikanischen Gerichtsreporterin Maurine Dallas Watkins, das wiederum zwei reale Gerichtsverfahren satirisch aufarbeitet. „Chicago" feierte im Jahr 1975 Weltpremiere, im Jahr 1996 gab es ein Broadway-Revival und 2002 wurde die filmische Umsetzung mit sechs Oscars ausgezeichnet. Nun wird das Publikum im Stuttgarter Palladium-Theater ins Chicago der 1920er Jahre versetzt.

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Sängerin Roxie Hart (Carien Keizer) landet nach dem Mord an ihrem Liebhaber im Knast. Dort ist Velma Kelly (Lana Gordon) der Star.

Mit Hilfe der bestechlichen Aufseherin „Mama" Morton (Isabel Dörfler) steht sie im Mittelpunkt des Medieninteresses. Anwalt Billy Flynn (Nigel Casey) soll ihr zur Freiheit verhelfen, dann will sie ihre Karriere fortsetzen. Roxie plant gleiches und nutzt dabei die Gutgläubigkeit ihres gehörnten Ehemanns Amos (Volker Metzger) schamlos aus. Boulevardjournalistin Mary Sunshine (Martin Schäffner) lässt sich gerne manipulieren und schreibt, was Anwalt und Angeklagte geplant haben.

Erstaunlich gut gelingt es, im großen Theatersaal eine fast intime Stimmung zu schaffen. Die Musiker sitzen direkt auf der Bühne, auf einer Tribüne, die über die ganze bespielte Bühnenbreite reicht. Der Musikalische Leiter Klaus Wilhelm sprüht vor Energie und führt sein 14-köpfiges Orchester ausgesprochen schwungvoll durch die jazzige Partitur. Bei den großen Nummern wie „All that Jazz", „Zellenblock Tango" oder „Mister Zellophan" verschmilzt der Klang aller Instrumente mit den Gesangsstimmen zu einer harmonischen Einheit. Mit sich wiederholenden, leisen Tönen einzelner Instrumente werden Tanzbewegungen musikalisch akzentuiert, was eine unglaublich dichte Atmosphäre erzeugt.

Grandios auch die lautmalerische Unterstreichung in vielen Szenen: Das Geräusch, als eine der Tänzerinnen die Rampe am Orchester hinunterrutscht, ist ebenso perfekt auf die Bewegung abgestimmt, wie der Trommelschlag, der jeden Griff an eine Leitersprosse begleitet. Dirigent Wilhelm ist auch direkt ins Geschehen integriert und darf schon mal eine Nummer ansagen oder sich einen Zeitungsartikel durchlesen, was die Untrennbarkeit von Musik und Handlung verdeutlicht.

Bei „Chicago" ist zudem die Choreographie nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern tragendes Element. Die Tänzerinnen und Tänzer setzen Gregory Butlers stilsichere Choreographie meisterhaft um. Die schnellen Schrittfolgen werden synchron und dynamisch getanzt. Charakteristisch sind die langsamen, lasziven Bewegungen: Da wird sich lustvoll auf dem Boden geräkelt, aufreizend mit den Hüften gekreist oder auch mal in den Spagat gesunken. In den teils fast zeitlupenartigen Bewegungen wird die Spannung bis in die Fuß- und Fingerspitzen gehalten, mit großer Eleganz und absoluter Präzision.

Obwohl die Kostüme den Blick auf viel nackte Haut erlauben, ist die Wirkung niemals billig, sondern stets edel und niveauvoll. Durchsichtige Stoffe, offene Westen, Netzstrümpfe, knallenge Hosen, kurze Kleidchen und Korsagen, alles in Schwarz. Der Wechsel zwischen den Charakteren - Reporter, Gefängnisinsasse, Liebhaber - gelingt den Ensemblemitgliedern allein durch das Schauspiel. Kostümwechsel finden nicht statt.

Ein Bühnenbild gibt es ebenso wenig. Wenige Requisiten werden so gezielt eingesetzt, dass eine sehr plakative Wirkung entsteht: Stühle, riesige weiße Federfächer, Notizblocks für die Reporter. Zusammen mit der ausgeklügelten Lichtregie, die viel mit grellweißen Spots arbeitet, ist die Wirkung phänomenal und schon knallrote Lippen oder Fingernägel werden zum auffälligen Farbtupfer.

Lana Gordon ist optisch und tänzerisch eine gute Wahl für die durchtriebene Velma Kelly, die für ihre Karriere und die Freilassung aus dem Knast alle Mittel nutzt. Mit katzengleicher Geschmeidigkeit tanzt Gordon elegant und leicht über die Bühne. Ihre bewusst überzogene Mimik gefällt ebenso wie die schöne, soulige Stimme. Einziges aber leider doch sehr ins Gewicht fallendes Manko ist ihre mangelhafte Aussprache. Gegen einen Akzent ist nichts einzuwenden, je nach Rolle kann dies sogar ausgesprochen charmant und passend sein. Aber Lana Gordon hat mit der Phonetik so große Probleme, dass sie auch mit äußerster Konzentration nur teilweise zu verstehen ist. Das reicht nicht, um dem textlichen Anspruch des Stücks gerecht zu werden.

chicago04Carien Keizer als Roxie Hart ist zwar auch nicht in jeder Passage einwandfrei verständlich, sie meistert die Sprachbarriere aber wesentlich besser. Leider bleibt sie stimmlich noch etwas blass, auch wenn vor allem ihre gehauchten Töne gepaart mit dem aufgesetzten Unschuldsblick das nur auf den ersten Blick unbedarfte Blondchen gut skizzieren. Zur Höchstform läuft Carien Keizer auf, als Anwalt Flynn erläutert, wie ihr neuer mediengerechter Lebenslauf aussieht und sie jedes Detail zeitgleich pantomimisch nachspielt. Absolut brillant überzieht sie jede Geste, jeden Blick und jede noch so kleine Bewegung und setzt dadurch die bissige Überzeichnung des Rollencharakters ins beste Licht.

Schablonenhaft angelegt sind alle Personen in „Chicago". Nigel Casey als zynischer Anwalt Billy Flynn wird jedem Vorurteil gerecht. Für Geld tut er alles. Wittert er bei einem neuen Mord noch mehr Medienpräsenz, lässt er andere Klientinnen schon mal links liegen. Im schicken Smoking mit weißer Nelke im Knopfloch und wunderbar sonorer Stimme passt Casey perfekt in die Rolle.

chicago02Dies gilt ebenso für Volker Metzger als Amos Hart. Völlig ohne Selbstbewusstsein, treudoof und naiv lässt er sich ohne Gegenwehr von seiner untreuen Ehefrau und deren gerissenem Anwalt für ihre Zwecke missbrauchen. Metzgers Spiel ist auf ganzer Linie grandios – komisch, und zugleich mit der nötigen Dosis Melancholie. Durch seine hausbackene Strickjacke, die zwischen all den glamourösen Outfits so richtig auffällt, wird seine Wirkung als trauriger Clown auch optisch verstärkt. Volker Metzgers Solo „Mister Zellophan" – mit übergroßen weißen Handschuhen, herrlichen Tanzschritten und klarem Tenor – wird zu einem begeistert beklatschten Höhepunkt der Show.

Auch Martin Schäffner als Mary Sunshine hat das Publikum auf seiner Seite. Manch' einer wird anfangs kaum bemerkt haben, dass „nichts ist wie es scheint" und tatsächlich ein Mann im Kostüm der Sensationsreporterin steckt, so perfekt ist Schäffners Falsettgesang mit fast koloraturartigen Parts. Isabel Dörfler punktet in der Rolle der „Mama" Morton ebenfalls mit viel Stimmvolumen und macht zweifelsfrei deutlich, dass das Motto im Frauenknast „Sei nett zu Mama" lautet.

chicago03Die Damen dort haben durchweg ein (selbstverständlich völlig nachvollziehbares) Mordmotiv oder eine gute Erklärung für die eigene Unschuld. Was rennt der Trottel von Ehemann auch gleich zehn Mal ins offene Messer? Im „Zellenblock Tango" brillieren Lana Gordon und das Damenensemble mit bösem Sarkasmus, genialem Spiel und tollen Stimmen. Dass die einzige womöglich wirklich Unschuldige sich nicht verständlich machen kann und als „ungarischer Seiltrick" endet, treibt die Persiflage auf die Gerichtsbarkeit und den Medienhype auf die Spitze.

„Chicago" ist ein Stück, das keine Knalleffekte braucht; es lebt von vielen Details, extravaganter Choreographie und mitreißenden Jazzmelodien. Wenn man sich auf diese etwas andere Art von Musical einlässt, erlebt man einen höchst unterhaltsamen Abend, bei dem vor allem die hervorragenden Leistungen der Musiker und Tänzer im Gedächtnis bleiben.

 

Text: Sylke Wohlschiess

 

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